Es ist Samstag Nachmittag und ich treffe mich mit Edda im Atelier.
"Lass uns ins Augartencafe gehen," sagt sie. Wir gehen durch den Park und Edda telefoniert, aber ihr Gespräch bricht ab.
"Der Akku", sagt sie auf das Handy deutend, während wir uns im Cafe einen Platz unter dem Sonnendach suchen. Wir bestellen Kaffee, und weil ich meine Zigaretten vergessen habe, bekomme ich eine von Edda.
"Wie war das mit den Comics?" will ich wissen.
"Was meinst du?"
"Naja, wann hast du begonnen Comics zu zeichnen?"
"Das kann ich nicht so genau sagen. In Indien habe ich keinen Computer gehabt, konnte keine fremden Materialien einsetzen, nichts kopieren, scannen oder pausen. Und weil ich nicht wochenlang an einem Ort sein kann, ohne mich mit etwas zu beschäftigen, war ich gezwungen, das, was ich ausdr?Eken wollte, mit Papier und Stift zu tun. So habe ich wieder begonnen zu zeichnen. Das war der Anfang vom Tagebuch", erklärt Edda. "Die Inhalte waren sehr persönlich. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ein paar schwierige Dinge zu bewältigen. Später habe ich das Tagebuch fortgesetzt. Menschen, die mich umgeben haben, haben im Tagebuch eine Rolle gespielt. Im übrigen hat mir diese Arbeit gezeigt: Das kann ich und das ist es."
"Wenn ich das richtig verstehe, warst Du in doppelter Hinsicht auf dich selbst zurückgeworfen. Wie kommst du unter solchen Umständen auf die Inhalte?"
"Wie meinst du das. Ich kann dir sagen, was mich interessiert."
"Ja, genau. Was interessiert dich?".
"Psychologie, Soziologie und Philosophie. Mich interessiert die Gesellschaft. Mein So-Sein in der Gesellschaft. Ich kann durch Lesen und durch Beschäftigung mit Theorie versuchen zu verstehen, wie Mechanismen funktionieren. Aber im Grunde geht es mir um die großen Themen aus meiner Sicht. Themen die jeden betreffen. Was ist der Sinn, wieso mache ich dies oder das."
"Und wie war das mit Tonto?"
"Nun, die Inhalte waren also da und wollten ein Ausdrucksmittel haben. Eigentlich wollte ich einen Comic-Verlag gründen. Die Umsetzung dieser Idee war allerdings mit einigen Schwierigkeiten verbunden und weil die Verbindung zwischen Musik und Comics ohnehin Tradition hat, habe ich begonnen die Web-Seite von Tonto als Plattform zu nutzen."
"Und schließlich ist das Heft Genossen entstanden", sage ich und ziehe es aus der Tasche.
"Ich habe in Chicago mit dem Zeichnen weitergemacht. Damals hatte ich einen sehr düsteren Traum. Dieser Traum bildet die Grundlage für meinen Plot und so ist die Geschichte im Meer entstanden."
"Eigentlich weiß ich wenig über Comics."
"Comics werden bei uns völlig unterschätzt", sagt Edda. "Man muss nicht nur wissen, wie man die Dinge darstellt, die man zeigen will, sondern auch technische Details studieren. Etwa wie man Plots konstruiert, wie man Schnitt und Sprache einsetzen kann. In mancherlei Hinsicht sind Comics dem Film sehr ähnlich. Ich betrachte Comics als erweiterte Erzählform. In diesem Kontext wäre es auch interessant theoretische Konzepte in die Comics einzubinden. In allen Dingen aber geht es mir um Erkenntnis. Ich will weiterkommen in meinen Gedanken."
Ich schlage das Comic auf und sehe mir das erste Bild der Traumsequenz an. Turnschuhe, Wasserlache und ein gebrochenes Spiegelbild. Drunter steht: "a dreamed I was at the seashore. The gloomy atmosphere made the water look dark."
"Das ist wirklich düster", sage ich.
Wir sprechen über Amerika. Die letzte große Erzählung sagt Edda, sei der Kapitalismus. Schließlich lebe auch der Neoliberalismus von einer Utopie. Uns werde suggeriert, dass wir nur einen genügend großen Markt schaffen müßten, damit es uns allen gut gehe. Und wenn wir uns fragten, wer die Protagonisten dieser Erzählung seien, so würden wir etwa auf den tüchtigen Tellerwäscher stoßen, der es zum Millionär gebracht hat. Ein Aushängeschild der Systemkonformen. Die Wahrheiten der Wahrscheinlichkeit sind freilich weniger glanzvoll, denke ich.
"Die Leute tun so, als sei die freie Marktwirtschaft ein Naturgesetz", sagt Edda.
Lange betrachte ich das dritte Bild der Traumsequenz. Susan blickt über ein weites dunkles Wasser. On the left a gigantic smimmingpool, on the right the ocean. In der Mitte eine Mauer. Mein Blick springt an der Mauer hin und her. Umspringbild die eine und die andere Welt das tiefe schwarze Meer und der domestizierte Pool. Und plötzlich -wie ein jäher Flash verstehe ich die Metapher.
Wir bestellen noch einmal Kaffee und diskutieren, ob Kaffee mit Zucker und Milch oder Kaffee mit Zucker ohne Milch oder Kaffee ohne Zucker und Milch das größere Gift sei.
"Schließlich wollte ich meine Comics vorstellen", sagt Edda. "Ich habe damit begonnen Archive von Helmut durchzusehen und mit meinen Arbeiten in einer Mappe zu kombinieren. In welcher Reihenfolge die Bilder stehen, das war irgendwie Intuition, oder Zufall. Auf einmal war da eine geordnete Geschichte."
Ich blättere im Heft und stelle fest, dass die Geschichte gar kein Ende hat. Wenn man will, beginnt sie immer wieder von vorn - zieht dich über den Rücken des Heftes wieder auf die erste Seite wie in einer Schleife und bei jedem mal bleibst du an einem anderen Details hängen. Du speicherst einen neuen Plot in deinem Kopf.
"Warum heißt es Genossen?" frage ich.
"Das stand auf dieser Zeichnung von Helmut," erklärt Edda.
"Und jetzt treffen sich die Comic-Gefährten auf der Web-Seite."
"Klar. Mit der Web-Seite haben wir die Möglichkeit aus der Welt Leute zu verbinden. Einen Pool von Zeichnern zu bilden. Ich frage die Leute, mit wem möchtest du gern arbeiten? Ich koodiniere und prodzuiere also. In der Folge können weitere Hefte entstehen."
"Ein Blick auf das Bild hinter der focussierten Schärfe-Ebene?" lese ich und schaue zu Edda hin.
Sie lacht. "Warum nicht? Eine Plattform für experimentelle Comics und animierte Zeichnungen."
Wir bestellen den dritten Kaffee.
"Aber vorerst geht es um die Vernetzung", sagt Edda plötzlich.
"Du meinst Tonto als Netzwerk?" frage ich.
"Ja. Hier manifestiert sich wahrscheinlich unser gemeinsames Denken. Genauso wie es zuerst die Freundschaften im Bereich der Musik gab, können sich auch die Freundschaften im Bereich der Comics entwickeln. Außerdem mag ich Low-Budget-Produktionen. Mein Ausflug in den Kunstbetrieb hat mir gezeigt, dass man durch Vereinnahmung Gefahr läuft, sich korrumpieren zu lassen."
Ich verstehe, was Edda meint. Besitznahme täte ihrer Künstlerpersönlichkeit Gewalt an.
Wir sprechen über die In-Stabilität des eigenen ICHs. Über das Ich, das sich ständig aufs Neue konstruieren und dekonstruieren muss.
"Vielleicht", sagt Edda "ist das auch mit dem Tonto-Bewusstsein so. Es konstruiert sich ständig neu. Wir arbeiten mit Fragmenten und jeder Teil verändert das Bild."
"Und wenn du mich nach Tonto fragst: Wahrscheinlich kann man es ganz simpel formulieren: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile."
- Fortsetzung folgt -